Verliebt ins Trampen & ins Klimacamp

Ein Traum wird wahr und zu einem Abenteuer

Seit Jahren höre ich spannende Geschichten, die Freund*innen auf Klimacamps erleben und auf anderen Veranstaltungen für nachhaltigen Wandel. In diesem Jahr habe ich mir den Traum erfüllt, am Klimacamp im Rheinland teilzunehmen, mir vor Ort selbst ein Bild zu machen von Umweltzerstörung und Widerstand.

Der Anfang eines großen Abenteuers.

19.8.19, Pionier*innentag:

Mein erstes Trampen zu meinem ersten Klimacamp

Morgens gegen neun Uhr verlassen meine Tramppartner*in und ich das Funkenhaus, stellen uns vor das Landgasthaus nahe der Landstraße und halten Daumen und Schild raus. Die Sonne strahlt mit unseren Gesichtern um die Wette, und nach wenigen Minuten hält ein Auto, das uns ein Stück mitnehmen kann. Rucksäcke und Taschen mit Zelt, Isomatten, Schlafsäcken und allem, was wir sonst noch auf dem Klimacamp brauchen, kommen geschwind in den Kofferraum und schon geht es los ...

Drei Autos später stehen wir an einer Raststätte, auf der wir nicht ungünstiger hätten abgesetzt werden können. Aufgrund einer Baustelle bei Kassel finden wir erst nach zwei Stunden eine Fahrerin, die uns zumindest ein Stückchen mitnehmen kann, bis zu einer anderen Raststätte. Dort gehen wir erst mal Trinkflaschen auffüllen. Als wir uns dann an eine Ampel stellen, sehen uns die wartenden Autofahrer*innen neugierig an, und als wir unser Schild auspacken, kurbelt ein Mann sofort das Fenster runter: "Ich fahr nach Dortmund." - Check! Das heißt, dass wir nun sogar ein Drittel der Strecke auf einmal zurücklegen können.

Auch zwei Sächsinnen nehmen uns ein Wegesstück mit und diskutieren mit uns lebhaft über Klimapolitik, Lohnarbeit und vieles mehr. Manchmal ist es ermüdend, sich mal wieder die alte Leier alter Weltsichten über Geld, "sinnvolle Tätigkeiten" und Ernährung anzuhören, die noch in so vielen Köpfen festsitzen und für viele Menschen Alltag sind. Umso froher sind wir über die neuen Selbstverständlichkeiten, die wir im Funkenhaus, einem Experimentierraum für gelebte Utopie, leben dürfen, wovon wir den Skeptiker*innen begeistert erzählen.

Nach 9 Stunden kommen wir an, erschöpft und überglücklich, nachdem uns die letzte Fahrerin sogar direkt bis zum Camp gefahren hat. Obwohl das für sie zwanzig Minuten Umweg bedeutet hat, wollte sie es unbedingt machen, weil sie so begeistert war von unserem Engagement.
Wir sind schon gespannt auf die Geschichten, die die anderen acht Utopist*innen später beim abendlichen Storytelling übers Trampen erzählen werden. Doch bisher sind von unserer kleinen Trampralley, zu der fünf 2er-Gruppen aufgebrochen sind, nur wir und zwei weitere Menschen angekommen.

Ich bin unbeschreiblich dankbar für meine wundervolle Tramppartner*in, mit der ich nach 7 Autos, 9 Stunden und vielen spannenden politischen Gesprächen in einer zerstörten Landschaft einer zerrissenen Bevölkerung ankomme, auf dem hoffnungsspendenen Protestcamp, das sich seit nun 10 Jahren für den Kohleausstieg engagiert, aufklärt, unterstützt, Widerstand leistet und Utopien spinnt. Wow, was für Abenteuer uns hier erwarten! Was für mutige Menschen, wie viel Verbindung zwischen Mensch und Natur unter dem weiten Sternenhimmel.

 

Klimacamp im Rheinland

Impulsvorträge, Diskussionen, Aktionen, meeegaaa leckeres veganes Essen, live-Bands und Tanzen ... ein selbstorganisiertes, herrschaftsfreies Camp, wo wir von- und miteinander lernen, uns austauschen beim Abspülen, Schnippeln und Klos-Bauen ebenso wie in Workshops, auf Mahnwachen oder während Gegenderkundungen. Für Mitbestimmung und Gemeinschaft!

Erkundungstouren

Ich hatte schon so viele Bilder von dem ein oder anderen Tagebau gesehen, hatte schon so oft über die Umweltzerstörung durch Kohle gelesen, hatte schon so häufig von Freund*innen über dieses "riesige Loch, diese klaffende Wunde in der Landschaft" gehört, das ganze Dörfer verschluckte. Doch als ich davor stand, konnte ich erstmals den Schmerz der Erde fühlen.

Wir sind entsetzt über die Zerstörung der Landschaft für den Profit von Unternehmen, also ein paar wenigen weißen Menschen. U.a. immer wieder gerechtfertigt mit "Arbeitsplätzen", obwohl dieses Argument längst entkräftet ist (Buchempfehlung: "After Work - radikale Ideen für eine Gesellschaft jenseits der Lohnarbeit").

 

RWE zerstört nicht nur die Landschaft und das Klima, sondern auch Dörfer und Gemeinschaften. Und zwar ganz systematisch: Obwohl der Braunkohleausstieg längst angekündigt ist, kauft das Unternehmen weiter Familienhäuser, Kirchen und andere Gebäude auf, um sie abzureißen. Wer nicht verkaufen will, wird dazu genötigt. Daher baggert RWE besonders gern in der Nähe von noch bewohnten Häusern jener Menschen, die bleiben wollen, auch wenn es genügend andere Stellen zum baggern gäbe, wie wir von betroffenen Bewohner*innen erfahren.

Wut, Betroffenheit und Schmerz empowern uns schließlich zum Handeln: "Die Klimakrise schreitet voran. Braunkohle ist der klimaschädlichste Energieträger. In keinem Land wird mehr Braunkohle gefördert als in Deutschland. Lasst uns das ändern!"

 

Don't watch the News, be the News!

Erfolgreiche Sitzblockaden. Viel Medienaufmerksamkeit. Bewegende Geschichten.

 

"Im Rahmen des 10. Klimacamps im Rheinischen Revier, das seit dem 15. August läuft und Dienstag endet, hatte die Aktionsgruppe "Kohle Ersetzen" ab dem Samstagmittag Sitzblockaden an mehreren Zufahrten zum Tagebau eingerichtet, unter anderem am Skywalk und der Nord-Süd-Kohlebahn. Mit Slogans wie "Raus aus der Kohle, rein ins Vergnügen" oder "Zwangsumsiedlungen machen krank" demonstrierten die Teilnehmer für das Ende des Braunkohletagebaus und für erneuerbare Energien. An insgesamt drei Standorten im Rheinischen Revier wurden Mahnwachen abgehalten.
Die Polizei griff nach etwa zwei Stunden ein, weil mit den Blockaden der Betrieb gestört wurde. Lastwagen mit Lieferungen mussten nach RWE-Angaben große Umwege fahren. Weil zwei Blockaden auf dem Betriebsgelände eingerichtet wurden, stellte RWE Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs. Zudem ermittelt die Polizei wegen des Verdachts der Nötigung. Von allen Demonstranten wurden die Personalien aufgenommen. 20 von ihnen, die sich weigerten, wurde zur Identitätsfeststellung vorübergehend in Gewahrsam genommen."

http://www.kohle-ersetzen.de/presse/medienecho/

Was, wenn ...?

Erkenntnisse, Geschichten und Fragen im Gepäck

Wer Kiki auf einen Blick beurteilt, sieht womöglich nur eine kleine, fette Frau mit grauen Locken, falschen Zähnen, Hängebrüsten und Klunkern an Fingern und Ohren. Eine Rentnerin auf dem Klimacamp?
In einer Gesprächsrunde bei einem der Workshops darüber, was wir für Befürchtungen und Bedenken haben, teilt sie mit, dass sie weder Angst noch Ekel bei der Vorstellung empfinde, während einer viele Stunden dauernden Lock-On-Aktion[*] Windeln zu tragen. Sie sei den Windeln eh schon recht nah. Sie habe auch nichts mehr zu verlieren. Ihr Mann sei mit Demenz im Pflegeheim.
Auch Worte wie „Ordnungswidrigkeit“ und „Straftat“ schrecken sie nicht. Das bisschen Rente, das reiche eh nicht zum Leben, und ihre Kinder, die seien gut versorgt, ihre Enkel seien in einer tollen Kita. Sie sei übrigens auch bei „Omas gegen Rechts“. Wir anderen mögen sie bitte nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, lächelt sie und entblösst wieder die geraden, keramikgelbweißen Zähne. Wir sähen es ihr vielleicht nicht an, aber sie mache neun Stunden Sport die Woche. Sie sei nicht besonders mutig, aber sie habe nichts mehr zu verlieren, sie hätte bereits alles gehabt.
[*Lock-on: Anketten, zb an Schienen, um einen Castortransport zu verhindern]

 

Eine Woche auf dem Klimacamp und ich habe viele kleine und große Geschichten zu erzählen. Ich habe unendlich viel gelernt, auch mal wieder, wie herausfordernd Vielfalt an Sichtweisen sein kann, wie sich scheinbare Widersprüche auflösen, wenn wir den Anspruch loslassen, alles schon zu wissen, und uns als Teile eines großen Puzzles (an)erkennen, und wie uns das Loslassen von (Vor-) Urteilen miteinander in Verbindung bringt. Fragen, die ich mir dabei gestellt habe und immer wieder stelle:

 

Kannst Du Dir und anderen erlauben, Vorurteile und Bewertungen zu haben, oder verurteilst und bewertest Du Dich und andere dafür?
Kannst Du Dir erlauben, Deine Vorurteile und Bewertungen bewusst wahrzunehmen und loszulassen?
Was, wenn der vermummte Typ auch für Deine Grundrechte auf die Straße geht?
Was, wenn der mürrische Landwirt, der behauptet, es sei doch alles gut und es stimme doch gar nicht, dass 40% der produzierten Lebensmittel im Müll landen, und er glaube sowieso nur der Statistik, die er selbst gefälscht habe, was, wenn er einfach Angst vor einer so großen Veränderung hat?
Was, wenn die Autofahrerin, die Dich beim Trampen mitnimmt und überzeugt erklärt, das Leben sei eben ein Kampf und man müsse nun mal arbeiten, sich eine andere Welt einfach noch nicht vorstellen kann?
Was, wenn sich der Frieden predigende Hippie im Gespräch als militanter Pazifist entpuppt, der einfach seine eigene Größe und Mächtigkeit fürchtet, mit der er die Gesellschaft mitgestalten könnte?
Was, wenn die Polizist*innen hassende Punker*in Ungerechtigkeit und andere schmerzvolle Erfahrungen mit Menschen in Uniform gemacht hat, die Du Dir nicht einmal ansatzweise vorstellen kannst?
Was, wenn Du hinter die Worte hörst, hinter die vor die Gefühle geschobenen Argumente, hinter das Gezetere?
Was, wenn Du Deine Bilder und Deinen Widerstand gegen das, was der andere da redet, nur mal für einen Moment loslässt und bloß mitzufühlen und zu verstehen versuchst, wie es ist, dieser andere Mensch zu sein, die Welt in seiner Haut zu erleben?
Was, wenn andere Dir mit dieser Offenheit und Empathie begegnen würden?
Was, wenn …?